13.06.2025 Dr. Jörg Herbers
ShareEuropa steht an einem Wendepunkt in der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI). Während in den USA hyperskalierbare KI-Modelle entstehen und China KI zur Säule nationaler Industriestrategie macht, war Europa lange vor allem Beobachter. Jetzt ist es an der Zeit, einen eigenen Weg zu gehen – mit technologischer Substanz und strategischer Entschlossenheit.
Von der Regulierung zur technologischen Souveränität
Die europäische KI-Verordnung (AI Act) ist ein bedeutender Schritt, um ethische Standards und Vertrauen in KI-Systeme zu etablieren. Doch Regulierung allein reicht nicht aus. Europa muss den Anspruch entwickeln, seine wirtschaftliche Stärke, industrielle DNA und logistische Exzellenz in skalierbare, marktfähige KI-Systeme zu übersetzen – aus Europa, für Europa und den globalen Markt.
„AI made in Europe“ darf keine defensive Formel für Regulierung oder ethische Abgrenzung bleiben. Es geht nicht darum, Technologie zu zähmen, sondern sie produktiv zu machen. Nicht um KI-Kritik, sondern um KI-Kompetenz. Europa – und speziell Deutschland – bringt mit seinem industriellen Fundament, seinen Bildungs- und Forschungsinstitutionen und seinen operativen Anwendungsfeldern ideale Voraussetzungen mit, um eine eigenständige, wettbewerbsfähige KI-Strategie zu verfolgen.
Operative Intelligenz als europäischer Wettbewerbsvorteil
Die operative Intelligenz europäischer Industrie liegt nicht in kalifornischen Datenzentren, sondern auf dem Shopfloor, in komplexen Lieferketten, in multimodalen Knotenpunkten – und in der Fähigkeit, Prozesse unter realen Bedingungen effizient, robust und flexibel zu steuern. Genau hier setzt KI "made in Europe" an: nicht als Spielwiese für generative Textmodelle, sondern als taktisches Gehirn in der Prozesssteuerung. Als entscheidungsunterstützendes System, das operative Komplexität in steuerbare Abläufe übersetzt.
Das ist keine Vision, das ist gelebte Praxis. Dort, wo präzise Entscheidungen unter Unsicherheit gefragt sind. Dort, wo es nicht reicht, Muster zu erkennen, sondern wo man in Echtzeit handeln muss.
Taktische Automatisierung schafft strategische Resilienz
Der strategische Hebel dieser operativen KI ist enorm: Unternehmen, die die taktische Steuerung ihrer Prozesse digitalisieren und automatisieren, können nicht nur effizienter wirtschaften – sondern schneller reagieren, wenn sich Märkte, politische Rahmenbedingungen oder Lieferketten verändern. Kurz gesagt: Taktische Automatisierung schafft strategische Resilienz.
Und genau hier liegt Europas Chance. Denn diese Fähigkeit – sich auf Neues einzustellen, Maschinen und Systeme umzurüsten, Produktionslinien neu zu konfigurieren – ist Teil unseres industriellen Selbstverständnisses. Sie ist tief verankert in den Regionen, in der Ausbildung, in der Mittelstandsstruktur.
Aachen: Region mit Strahlkraft für europäische KI
Ein Beispiel für diesen Strukturvorteil ist Aachen. Die Stadt vereint Spitzenforschung, industrielle Exzellenz und ein dynamisches Innovationsökosystem. Mit der RWTH Aachen als einer der führenden technischen Universitäten Europas, einer wachsenden Start-up-Szene und starken Industriepartnern entsteht hier ein regionales Umfeld, das beispielhaft zeigt, wie europäische KI-Entwicklung aussehen kann: anwendungsnah, verantwortungsvoll und skalierbar.
Mit der im Mai 2025 gegründeten AI Alliance Aachen wird dieser Anspruch nun weiter konkretisiert. Als Auftakt dieses Schulterschlusses haben wir gemeinsam mit führenden regionalen Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik das "Memorandum für ein starkes Ökosystem für Künstliche Intelligenz im Raum Aachen" unterzeichnet, mit dem klaren Anspruch, Aachen zu einem Leuchtturm europäischer KI-Kompetenz zu machen.
Die Unterzeichnung fand im Rahmen der Aachener KI-Woche statt und war Teil eines vielfältigen Programms. Mit 40 Veranstaltungen – auch unter Beteiligung von INFORM – an den unterschiedlichsten Orten wurde die Vielfalt und Innovationskraft von Künstlicher Intelligenz in unserer Region eine Woche lang auf großartige Weise erlebbar gemacht – für die Öffentlichkeit, Unternehmen und Familien gleichermaßen.
Die Eindrücke dieser Woche haben einmal mehr gezeigt: Wenn Europa KI ernst meint, braucht es Orte wie Aachen – als Knotenpunkte, nicht nur als Symbolorte. Hier zeigt sich, wie aus politischer Vision und technologischer Tiefe konkrete Umsetzungsprojekte entstehen können.
Investitionen in Infrastruktur und Talente
Um diesen Weg erfolgreich zu beschreiten, sind gezielte Investitionen notwendig. Die Europäische Kommission hat kürzlich das InvestAI-Programm vorgestellt, das 200 Milliarden Euro mobilisieren soll, um Europas KI-Fähigkeiten zu stärken. Dazu gehören der Aufbau von KI-Gigafactories, die Entwicklung europäischer Halbleiter und die Förderung von Talenten. Solche Initiativen sind entscheidend, um Europas technologische Souveränität zu sichern.
Fazit: Europas Moment nutzen
Europa hat das Potenzial, eine führende Rolle in der KI-Entwicklung einzunehmen. Dazu bedarf es jedoch eines klaren Selbstverständnisses und des Willens, technologische Führerschaft anzustreben. Es ist Zeit für technologischen Selbstbehauptungswillen – für KI made in Europe.