17.12.2025 Michael Dannhauer
ShareProzesse bestimmen den Alltag von Unternehmen – vom Wareneingang über die Produktionssteuerung bis zur Rechnungsprüfung. Doch was in diesen Abläufen wirklich passiert, bleibt oft verborgen. Process Mining ändert das: Die Technologie macht sichtbar, wie Prozesse tatsächlich funktionieren und wo sie aus dem Takt geraten.
Wir haben mit Miriam Wagner gesprochen, AI- und Process-Mining-Expertin bei INFORM. Sie erklärt Grundlagen, Forschungsansätze sowie deren Nutzen und zeigt, warum für INFORM Process Mining die Verbindung von Prozessanalyse, Optimierung und Entscheidungsintelligenz bedeutet.
Zur Person

Miriam Wagner ist Expertin für Process Mining und Künstliche Intelligenz bei INFORM. Sie beschäftigt sich mit der Analyse realer Prozessdaten und der Frage, wie Unternehmen aus diesen Erkenntnissen fundierte Entscheidungen zur Prozessoptimierung ableiten können. In ihrer Arbeit verbindet sie wissenschaftliche Fragestellungen mit praxisnahen Anwendungsfällen aus Bereichen wie Logistik, Produktion und Supply Chain Management.
Interview
Frage: Frau Wagner, wenn Sie jemandem, der noch nie davon gehört hat, erklären müssten, was Process Mining eigentlich ist, wie würden Sie es beschreiben?
Antwort: Process Mining ist wie ein Röntgenbild für Geschäftsprozesse. Wir durchleuchten die Abläufe eines Unternehmens und sehen, was wirklich passiert. Es nutzt Daten, die ohnehin in IT-Systemen anfallen: sogenannte Eventlogs. Darin steht, wann ein Vorgang gestartet, bearbeitet oder abgeschlossen wurde. So entsteht ein reales Prozessbild: Unternehmen erkennen, wo Abläufe reibungslos funktionieren und wo Engpässe, Schleifen oder unnötige Wartezeiten entstehen.
Frage: Process Mining schaut also tief in die Arbeitsweise von Unternehmen hinein. Wie ist diese Technologie entstanden?
Antwort: Bevor Process Mining zu einer eigenen Forschungsrichtung wurde, stand ein einfaches Ziel: Prozesse endlich so sichtbar zu machen, wie sie tatsächlich ablaufen, faktenbasiert statt gefühlt. Wenn jemand zum Beispiel davon überzeugt ist, dass die Produktionsplanung reibungslos läuft, kann sich das ändern, wenn die Daten zeigen, dass sich Arbeitsschritte überschneiden oder Ressourcen falsch getaktet sind.
Die Wurzeln liegen in der Forschung, genauer gesagt an der TU Eindhoven. Dort hat der niederländische Informatiker Wil van der Aalst, einer der Väter des Process Mining, Anfang der 2000er-Jahre den Begriff geprägt.
Vorher wurden Prozessdaten manuell gesammelt: Studierende liefen mit Klemmbrett und Fragebogen durch Werke, fragten Mitarbeitende nach ihren Arbeitsschritten und übertrugen die Ergebnisse in Excel. Das war aufwendig, subjektiv sowie fehleranfällig und zeigte nur einen Ausschnitt des tatsächlichen Geschehens. Heute funktioniert das automatisiert und in großem Maßstab.
Frage: Wie weit lässt sich Process Mining in verschiedenen Branchen anwenden? Welche Einsatzfelder sind heute besonders spannend?
Antwort: Die Methode funktioniert überall, wo digitale Spuren entstehen: in der Produktion, im Finanzwesen, in der Verwaltung oder im Gesundheitswesen. Ich kenne Krankenhäuser, die mit Process Mining Transportzeiten zwischen Abteilungen verkürzt haben, oder Behörden, die ihre Bearbeitungszeiten halbieren konnten, weil sie erkannt haben, wo Anträge liegenbleiben. Entscheidend ist der Mut, in die eigenen Abläufe hineinzuschauen.
Frage: Wenn Unternehmen ihre Abläufe verstehen wollen, greifen sie oft auf klassische Business-Intelligence-Systeme zurück, die Kennzahlen verdichten und visualisieren. Wo liegt also der Unterschied zu diesen Anwendungen?
Antwort: Business Intelligence (BI) zeigt Zahlen, zum Beispiel wie viele Aufträge abgeschlossen wurden. Process Mining zeigt Wege, also wie diese Aufträge tatsächlich durch das System laufen. Während BI aufzeigt, was passiert, erklärt Process Mining, wie und warum. So lässt sich nachvollziehen, an welcher Stelle im Prozess Dinge ins Stocken geraten oder von der geplanten Reihenfolge abweichen.
Ein Beispiel ist der OCEL-Standard: ein international anerkannter Datenstandard im Process Mining. Er beschreibt, wie Ereignisse und Objekte miteinander verknüpft werden, damit komplexe Abläufe in unterschiedlichen Systemen vergleichbar und nachvollziehbar sind. In einer Autofertigung etwa laufen Kundenaufträge, Bauteile und Maschinenprozesse parallel. OCEL macht diese Beziehungen sichtbar und damit verständlich.
Frage: Was bringt das in der Praxis. Lassen sich daraus tatsächlich messbare Erfolge erzielen?
Antwort: Ja, absolut. Der wirtschaftliche Nutzen entsteht durch Transparenz. Ein Unternehmen sieht genau, wo Zeit verloren geht oder Nacharbeit entsteht. Ein Beispiel: In der Rechnungsprüfung lassen sich verspätete Zahlungen aufdecken, bevor sie teuer werden. In der Logistik helfen die Daten, Standzeiten zu reduzieren oder Durchlaufzeiten zu verkürzen. Aber Zahlen allein sind kein Selbstzweck. Wert entsteht erst, wenn Unternehmen die Erkenntnisse in Maßnahmen umsetzen, indem sie etwa Arbeitsschritte neu takten, Zuständigkeiten klarer definieren oder automatisierte Prüfungen einführen, um Fehlerquellen zu vermeiden.
Frage: Viele Unternehmen setzen heute auf Künstliche Intelligenz. Welche Rolle spielt KI im Process Mining?
Antwort: Decision Intelligence revolutioniert die Entscheidungsfindung, indem sie KI, Datenanalyse und menschliche Expertise intelligent kombiniert. Unternehmen, die DI einsetzen, profitieren von präziseren Entscheidungen, erhöhter Effizienz und gesteigerter Wettbewerbsfähigkeit. Erfahren Sie mehr über unsere Lösungen und kontaktieren Sie uns für eine individuelle Beratung.
Frage: Wie lässt sich das methodisch fassen, was dabei im Hintergrund passiert?
Antwort: Wenn man es methodisch betrachtet, besteht Process Mining im Wesentlichen aus drei klassischen Disziplinen: Process Discovery beschreibt das Abbilden realer Abläufe, Conformance Checking den Soll-Ist-Abgleich und Enhancement die Erweiterung um Leistungsdaten. Dabei wird das Prozessmodell um Informationen wie Laufzeiten, Kosten oder Ressourcennutzung ergänzt. So lässt sich erkennen, wo Prozesse besonders effizient sind und wo sich Engpässe oder Wartezeiten häufen. Diese drei Schritte sind die Basis jeder modernen Process-Mining-Analyse.
Frage: Welche weiteren KI-Technologien kommen heute ins Spiel und wie verändern sie die Anwendung?
Antwort: Neben Machine Learning spielen zunehmend Sprachmodelle eine Rolle. Sie ermöglichen es, mit Systemen, die Prozesse überwachen und analysieren, auf neue Weise zu interagieren – fast so, als würde man mit einem Kollegen sprechen.
Wir bei INFORM möchten beispielsweise, dass ein Produktionsleiter zukünftig unsere Software per Spracheingabe fragen kann: „Zeig mir alle Aufträge, die länger als zehn Tage in der Nachbearbeitung hängen.“ Das System übersetzt die Frage automatisch in Code, ruft im Hintergrund die passenden Process-Mining-Algorithmen auf und kommuniziert mit ERP-, MES- oder Data-Warehouse-Systemen. Die Ergebnisse erscheinen als verständliche Antwort oder Visualisierung. Dieser Ansatz – „Ask your Process“ – senkt die Einstiegshürde für Nicht-Fachleute deutlich.
Die Process-Mining-Community auf processmining.org arbeitet bereits intensiv daran, solche Ansätze weiterzuentwickeln.
Frage: Wie setzt INFORM Process Mining ein und was passiert konkret bei Ihnen?
Antwort: Wir sehen Process Mining als einen Startpunkt für das, was wir bei INFORM „Process AI“ nennen: die Verbindung von Prozessanalyse, Optimierung und Entscheidungsintelligenz. Dabei geht es uns vor allem darum, Prozesse nicht nur zu verstehen, sondern die gewonnenen Erkenntnisse direkt in operative Systeme einfließen zu lassen.
Unsere Optimierungssysteme planen und steuern Abläufe in Echtzeit und unterstützen Unternehmen dabei, bessere Entscheidungen zu treffen. Process Mining liefert die Grundlage dafür: Es zeigt, wo Potenziale liegen und wie sich Anpassungen tatsächlich auf den Ablauf auswirken.
Diese Erkenntnisse fließen direkt in unsere Forschungsarbeit ein. Gemeinsam mit der RWTH Aachen und weiteren Partnern erproben wir neue Ansätze, um sie in die Praxis zu bringen. So schaffen wir Schritt für Schritt die Grundlage für eine integrierte Process-AI-Strategie und damit für den nächsten Entwicklungssprung in Richtung intelligent vernetzter Entscheidungsunterstützung.
Frage: Viele Forschungsvorhaben im Bereich Process Mining basieren auf realen Unternehmensdaten. Wie offen sind Unternehmen, diese Daten zu teilen, und welche Herausforderungen ergeben sich daraus?
Antwort: Sie sind häufig noch vorsichtig, wenn es darum geht, reale Prozessdaten für Forschungszwecke bereitzustellen. Oft aus Sorge um Datenschutz oder Wettbewerbsinformationen. Wir setzen daher zunächst auf interne Testdaten und Pilotprojekte, bevor wir reale Kundendaten analysieren. Wir achten wir darauf, dass Daten anonymisiert und sicher verarbeitet werden, um wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischem Nutzen zu verbinden.
Frage: Wenn Sie den aktuellen Stand und die Richtung betrachten: Wohin entwickelt sich Process Mining weiter – und welche technologischen oder strategischen Entwicklungen sind aus Ihrer Sicht besonders entscheidend?
Antwort: Momentan passiert sehr viel. Ein Trend ist das sogenannte Object-Centric Process Mining, bei dem mehrere Objekte gleichzeitig analysiert werden. Man kann sich das vorstellen wie eine 3D-Ansicht: Statt nur einen Ablauf linear zu betrachten, sieht man, wie verschiedene Elemente – Maschinen, Produkte, Aufträge oder Mitarbeitende – miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. So werden Zusammenhänge sichtbar, die sonst verborgen blieben.
Außerdem geht es um Streaming Process Mining, also Echtzeit-Analysen. Damit kann man auf Abweichungen reagieren, während sie passieren. Und besonders wichtig finde ich die Entwicklung hin zu „Action-oriented Process Mining“ – Systeme, die nicht nur analysieren, sondern Vorschläge machen, was zu tun ist. Das greift direkt die Mission der INFORM auf: Systeme zu entwickeln, die aus Analyse Handlungsempfehlungen ableiten und so den Weg zu Process AI ebnen. In der Forschung wurde das auf Konferenzen wie der ICPM 2025 intensiv diskutiert.
Frage: Zum Abschluss; Wie erklären Sie einem Unternehmen in aller Kürze, warum es Process Mining braucht?
Antwort: Weil kein Unternehmen sich wirklich verbessern kann, ohne zu wissen, wie es arbeitet. Aber Transparenz ist kein Selbstzweck. Sie ist der Anfang produktiver Veränderungen. Wir wollen Unternehmen helfen, diese Transparenz in intelligente Entscheidungen zu übersetzen, damit sie Prozesse nicht nur beobachten, sondern aktiv gestalten.
INFOBOX: Wie INFORM Process Mining in realen Prozessen erprobt
- In der Luftfahrt beschäftigt sich INFORM mit dem Einsatz von Process Mining beim sogenannten Turnaround-Management. Hierbei werden alle Abläufe rund um die Abfertigung eines Flugzeugs koordiniert, vom Catering bis zu dem Moment, in dem ein Spezialfahrzeug das Flugzeug vom Gate zurückschiebt, damit es zur Startbahn rollen kann. INFORM analysiert, wie sich Prozessdaten in Echtzeit nutzen lassen, um Verzögerungen frühzeitig zu erkennen und Ressourcen besser zu koordinieren.
- Ein weiteres Forschungsprojekt befasst sich mit der Analyse menschlicher Eingriffe in automatisierte Prozesse: Hier untersucht INFORM, wann solche Eingriffe erfolgen und ob sie die Ergebnisse verbessern oder verschlechtern. Dafür nutzt das Team das Toolkit PMTK, eine Plattform zur Prozessanalyse.
- Auch in der Automobil-Logistik arbeitet INFORM mit Pilotanwendungen: Dort werden die Bewegungen fertig produzierter Fahrzeuge auf großen Werksgeländen – etwa zwischen Fertigung, Zwischenlager und Verladung – in Echtzeit erfasst und analysiert. Weicht ein Fahrzeug von der geplanten Route ab, steht zu lange still oder wird an einer falschen Position abgestellt, schlägt das System automatisch Alarm – ein sogenannter Smart Alert. So können Mitarbeitende sofort eingreifen und den reibungslosen Ablauf beim Abtransport der Fahrzeuge sicherstellen.
ÜBER UNSERE EXPERT:INNEN

Michael Dannhauer
Michael Dannhauer ist seit 2002 im Corporate Marketing bei INFORM tätig und beschäftigt sich mit Themen rund um die Optimierung von Geschäftsprozessen mithilfe von KI.
